Dieser Essay mit dem Titel “Liebe Eltern!” im Neunkirchner Heimatbuch (erschienen im Jahr 1949) von Karl Pritz, Bezirksschulinspektor, ist wirklich bemerkenswert.
Karl Pritz, Bezirksschulinspektor
Liebe Eltern !
Ihr werdet vielleicht erstaunt sein, im Heimatbuch auch einen an Euch gerichteten Brief zu finden, denn Ihr seid wohl der Meinung, ein Heimatbuch habe in erster Linie nur mit der Heimat zu tun. Nun — eben darum ist dieser Brief recht am Ort, denn Ihr seid genau so ein Stück Heimat, wie Berg und Tal, Wasser und Luft, Baum und Strauch, Gras und Kraut. Was wäre die schönste Heimat ohne Euch! Ihr seid viel mehr Heimat als alles andere. Von allem, was uns Heimat ist, seid Ihr das Beste, das Liebste, das Teuerste. Denn Ihr seid das Herz dieser Heimat.
An dieses Herz will sich unser Brief in erster Linie wenden; und an den vorsorgenden Verstand. Diese Zeilen wollen Euch aufmerksam machen auf das schwierigste und weitreichendste Problem des Jugendlichen: Das Problem der Berufswahl. Ich bitte Euch mitzuhelfen, daß es richtig und zum Wohl der Jugend gelöst wird.
Anfangs Juli schließt sich alljährlich für die Vierzehnjährigen das Tor des sonnigen Landes, Kindheit genannt. Gesegnet jeder, dem es Märchenland war. Wir alle wissen vom herrlichen Schlaraffenland, wir alle wissen von den braven Heinzelmännchen. Das Land ist wahrhaftig da oder sollte für jeden – wenigstens in der ersten Epoche seines Lebens – da sein. Und die Heinzelmännchen gibt es auch, nur nennt sie das profane Leben Vater und Mutter.
Gerade in Arbeiterkreisen findet man oft und oft, daß aus tiefstem Inneren heraus, vielleicht im Nachempfinden eigenen schmerzvollen Erlebens, das Bestreben herrscht, mit Aufopferung und grenzenlosem Verzicht auf alle persönlichen Ansprüche, dem Kinde das Kindsein möglichst schön zu gestalten. Die Arbeitereltern wissen schon warum!
An tausende Buben und Mädel tritt nun der Lebensernst heran mit der Frage: „Was nun? Welcher Beruf soll mich ernähren, mich zum zufriedenen Menschen machen, mein Leben erfüllen?” Viele haben sich schon entschieden oder meinen, sich schon entschieden zu haben und alles weitere hängt nur mehr vorn. Finden einer ordentlichen Lehrstelle ab. Manche überlassen es dem Zufall und viele gibt es, die sind überhaupt noch nicht so weit, in sich selber die ernste Frage nach dem Lebensberuf beantworten zu können. Es gibt ja späte und frühe Früchte, auch bei uns Menschen. Für diese wäre ein 9. Schuljahr unbedingte Notwendigkeit. Auch in körperlicher Hinsicht könnte es nicht schaden.
Ich habe in vielen Schulen, in die mich mein Beruf führte die Schüler der letzten Stufe gefragt, was wollt ihr werden? Und ich habe zu meinem Erstaunen bemerkt, daß der Gesichtskreis unserer Entlaß-Schüler oft unglaublich klein ist. Ich habe erlebt, daß von den tausend und aber tausend Berufen den Kindern nur einige wenige bekannt sind; und diese meist nur dem Namen nach. Von diesen wenigen sind es sozusagen nur eine kleine Handvoll, die sie anzieht.
Die Buben sähen sich am liebsten am Volant eines Flugzeuges oder Autos und das schnelle Motorrad ist ihr Ideal. Dann kommt im weiten Abstand der Schlosser in Frage — dahinter steht die Sehnsucht nach der Lokomotive. Einige wollen Kaufleute, Friseure, Tischler, Maler und Anstreicher werden. Dann kommt der Beruf des Beamten, des geistigen Arbeiters. Dahinter steckt wohl der Gedanke an die Pension, die saubere Kanzlei und das scheinbar viel leichtere Arbeiten in der geheizten Stube. Ich fand nur ganz selten einen, der Maurer, Schneider, Schuster, Sattler, Wagner, Binder, Spengler, Dreher, Drechsler werden wollte. Bauer wird nur, wem ein Hof in Aussicht steht; zweite und dritte Söhne zieht es ins Handwerk oder in einen Beamtenberuf — also in die Stadt. Die Landflucht hat im Dorf ihre Wurzeln. Ich habe im ganzen Bezirk Wiener Neustadt-Stadt und Neunkirchen keinen gefunden, der Bergmann werden wollte. Ich fand keinen Rauchfangkehrer, Dachdecker, Pflasterer, Betonierer, Schmied, Töpfer, Ofensetzer, Ziegelschläger, Gerüster, Brunnenbohrer, Kanalräumer Erkennt Ihr nun, warum manche Berufe Mangelberufe sind und sehr gut bezahlt werden?
Bei den Mädchen ist es noch krasser. Sie wollen in erster Linie Schneiderinnen, dann Friseurinnen werden. Ihr Drang in die Handelsschule, das heißt also in die Büros, Kanzleien und Geschäftshäuser ist bemerkenswert stark, Ihre Kenntnisse auf allen Gebieten des Ökonomisch-soziologischen Wissens sind gleich Null. Im ganzen Bezirk Neunkirchen fand ich bis jetzt drei, die Köchinnen werden Wollten. Im allgemeinen kennen die Mädchen die zahlreichen Frauenberufe überhaupt nicht, angefangen von der Spinnerin bis zur Wirkerin und Färberin, von der Blumenbinderin bis zur Federnschmückerin, von der Serviererin bis zur Haushälterin.
Ginge es nach unseren Kindern, die Wirtschaft könnte nach kurzer Frist nicht mehr weiter! „Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt…” – eine ordentliche Wirtschaft kann mit dir nichts anfangen! Denn sie braucht den Bergmann genau so notwendig, wie den Bauern, den Holzknecht genau so wie den Lampisten, den Gießer, den Schmied, den Schwarzdecker, den Gerüster, den Verschaler, den Fräser usw. usf.
Und das Leben ist mächtiger wie die Träume unserer Mädchen, die Wünsche unserer Buben!
Liebe Eltern, da beginnt nun Eure Aufgabe. Ich bitte Euch, lenkt beizeiten die Aufmerksamkeit Eurer Kinder auf den kommenden Berufs Sprecht mit ihnen über das, was man Broterwerb nennt.
Wohl beginnt die gewissenhafte Schule im letzten Schuljahr mit ernster Belehrung über diese Dinge. Die Arbeitsämter schalten sich zusätzlich ein und in Elternabenden sprechen Fachmenschen über den Bedarf und die Aussichten der Berufe.
Eine einfache Überlegung sagt uns allen, daß bei der Berufswahl nichts so ausschlaggebend sein muß wie der Wunsch, unsere Kinder vor dem Würgegriff der Arbeitslosigkeit zu bewahren. Dieser Würgegriff hat gerade in unserer Gegend die Arbeiterschaft jahrelang gefoltert — und hatten sie Arbeit — wie ein Alpdruck Tag und Nacht geängstigt. Er ist an so viel Unglück und Irrtum schuld. Er hat uns durch Jahre um ein menschenwürdiges Dasein gebracht und war der Vater des unseligen politischen Irrtums, Nazismus geheißen.
Liebe Eltern, ich weiß, Ihr alle habt den schlichten Wunsch, für Eure Kinder womöglich ein Schlaraffenland zu entdecken. Es ist aber dafür gesorgt, daß Ihr es mit bestem Willen nicht finden könnt. Der Krieg hat uns alles veressigt, selbst ein gutes Stück von dem, was wir Paradies der Jugend nennen. Wir müssen uns alle bemühen und nur ein Gedanke soll uns bei der Berufswahl maßgebend sein: Unsere Kinder jenen Berufen zuzuführen, die sie aller Voraussicht nach vor der Arbeitslosigkeit bewahren. Und das sind jene Berufe, die mit der Bauwirtschaft und mit der Urproduktion (Brot, Eisen, Kohle) zusammenhängen. In ihnen wird – so kann wohl angenommen werden – der kommende Mensch sein sicheres Brot finden.
Warnt Eure Kinder vor geistigen Berufen! Sie sind der Ungunst der Zeit am ärgsten ausgeliefert. Laßt das junge Mädchen lernen, was Mädchenhände von Natur aus in sich haben, also was Küche und Haus, Wirtschaft und Leben von den Frauen seit urewigen Zeiten verlangen: Frau und Mutter sein, Kinder und Kranke warten, jene Arbeit zu leisten, die geschickte und wendige, feinfühlige Finger braucht. Die Schreibmaschine ist nur für übertalentierte das geeignete Anhängsel. Und laßt die Buben lernen und wieder lernen. Je mehr sie lernen, um so weniger werden sie hungern! Je griffbereiter und geschickter ihre Hände sind und je vielfältiger sie zugreifen gelernt haben, um so geringer wird ihre Anfälligkeit in Krisenzeiten sein, Und lernt ihnen beizeiten Hochachtung vor aller Arbeit empfinden. Bedenkt, daß unsere Landwirtschaft über 40.000 Menschen sucht und sie nicht findet!
Seid alle gewarnt vor einem weichlichen Nachgeben unreifen Wünschen und Meinungen gegenüber!
Liebe Eltern, Ihr kennt das Leben und Ihr wißt, was eine ungeschickte Berufswahl bedeutet. Ihr wißt, was man meint, wenn man vom „verpfuschten Leben” spricht. Und in der Hoffnung, mit diesen Zeilen Eure Zustimmung zu finden, laßt mich schließen mit freundlichen Grüßen
vom Schulinspektor.